Apr 7, 2011

Chile - Soziales und Lebenseinstellung

Weiter geht es mit der Lebenseinstellung vieler Chilenen. Diese ist natürlich nicht für alle Leute gleich, aber viele Dinge sind mir so oft begegnet, dass sie doch eine Mehrheit der Chilenen repräsentieren dürfte:
Die wichtigen Punkte im Leben sind Geld und Familie.
Ich fange mal mit dem Geld an. Ich habe das Gefühl, dass sich alles nach dem Geld richtet. So ist zum Beispiel alles, was nicht mehr Geld verspricht, töricht bzw. unsinnig. Am häufigsten wurde ich daher auch kritisiert, dass ich
  • Spanisch gelernt habe. Es bringt mir für meine Arbeit ja nicht viel und ich werde wahrscheinlich auch deswegen keinen Euro mehr verdienen. Das ich also 450 € für einen Sprachkurs ausgegeben habe, ist daher für viele unverständlich.
  • reise. Reisen kostet doch nur Geld und bringt nichts ein. Mehrfach wurde ich gefragt, ob Deutschland denn nicht auch schön sein und warum ich denn hier Urlaub mache. Ich habe dann meist geantwortet, dass ich Chile so toll finde, aber das änderte nichts daran, dass Reisen Geldverschwendung ist. Und so habe ich weder in Bolivien noch Argentinien auch nur einen Chilenen getroffen. Und gerade Bolivien ist für Chilenen ja sehr preiswert - für das Geld einer Woche in Chile, kann man 4 Wochen in Bolivien urlauben. In Bolivien gab es daher auch viele Touristen aus Argentinien und Brasilien. Aber da greift wieder die Logik, des sich absondern wollens und so habe ich oft den Spruch zu hören bekommen, dass Bolivien ja so ein rückständiges Land sei, dass man da eben nicht hinfährt. Argentinien ist aber nun genauso weit entwickelt wie Chile, aber trotzdem fährt man da nicht hin. So saß neben mir auf der Rückfahrt von Mendoza nach Santiago eine Frau, die so ziemlich jeden Fels fotografierte. Ich fragte, ob es denn das erste Mal für sie in Chile sei, aber sie ist Chilenin. Mit ihren 45 Jahren war sie jetzt das erste Mal in Mendoza und auch in den Hochanden. Und dass, obwohl sie in Santiago wohnt und es von dort nur 150 km bis zur argentinischen Grenze sind. Mendoza wäre also die perfekte Stadt für Wochenendtrips aber die meisten Leute im Bus waren Argentinier. In Córdoba registriert man in der Touriinfo von jedem die Nationalität und so fragte ich nach, wieviele Chilenen denn in der Liste sind - kein einziger! Das ist in etwa so, als würde man in Lyon (ebenfalls zweitgrößte Stadt des Landes) keinen einzigen deutschen Touri treffen - undenkbar. Das krasseste ist mir diesbezüglich aber in Lota passiert, als ich mich kurz vor dem Eingang zur Kohlemine verlaufen hatte und einen Mann nach dem Weg fragte. Er zeigte mir den Weg, fing aber zugleich an mir vorzudozieren wie blödsinnig es sei, hierher zu kommen. Was mir denn das jetzt bringen würde, wieso ich alleine hier bin, ob ich denn keinen Job hätte und überhaupt wären alle Gringos verrückt und ich ein gutes Beispiel dafür. Dann meinte er noch, dass das Unsinnigste was er jemals erlebt hat, ein Ami gewesen ist, der mit dem Fahrrad Chile von Süd nach Nord durchfahren wollte und in Lota vorbeikam. Als Vergleich: unser Fahrer im Salar de Uyuni (Bolivien) erzählte, dass mal ein Franzose mit dem Rad vorbeikam, der allein im Altiplano unterwegs war. Er fand es interessant und hat ihn in sein Haus eingeladen und beherbergt. Einige Jahre später kam der Franzose mit seiner Frau und Kindern wieder um sich zu bedanken und weil er es so toll fand. Dies war eine der schönsten Überraschungen im Leben unseres Fahrers. Da zeigt sich wieder, was wirklich wichtig im Leben ist: Geliebt zu werden und die Dinge, auf die man nach dem ersten Jahr in Rente gern zurückschaut. Und das ist eben nicht "Der Geschäftsabschluss 2013 war echt super!", sondern privates Glück und Erlebnisse wie diese.
Das Streben nach Geld führt leider auch zu wenig Kultur. So habe ich außerhalb Santiagos z.B. kein Kino gesehen und selbst in Städten mit ca. 200000 Einwohnern wie Chillán und Temuco, habe ich kein Theater gefunden. Es gab auch keine wirklichen Discos und auch keine "richtigen" Restaurants. Wir haben oft nach Restaurants gefragt, aber die Leute haben und uns immer in Hamburgerlokale geschickt. Denn richtig Essen gehen kostet eben Geld, was man nicht hat oder für Anderes ausgibt. Dass es keine Kinos gibt, liegt daran, dass man sich die Filme lieber zu Hause anschaut, da das billiger ist. Über Kultur wird auch gnadenlos Buch geführt: kommen weniger Besucher als vorgesehen, wird die Einrichtung dicht gemacht. Deswegen waren die in Lota in ihrem halb verfallenen Theater auch so froh, dass sie mich als Besucher zählen konnten, obwohl ich ja gar nichts angesehen habe. Alles in allem ist dadurch selbst in bolivianischen Kleinstädten wie Tupiza (wo die Leute ja eigentlich noch weniger Geld haben) deutlich mehr los als z.B. in Chillán. (Übrigens wurde in Chile die Zensur von Filmen, Zeitungen und des künstlerischen Ausdrucks erst in den Jahren 2000 - 2005 schrittweise abgeschafft.)

Kinder und Familie sind wie in jeder Gesellschaft der zentrale Punkt des Lebens. Ehe ich darauf eingehe, muss ich aber ein Tabu ansprechen, dessen sich jeder Reisende bewusst sein sollte: Ist man älter als 25 Jahre und hat keine Kinder, wird man je nachdem für schwul oder lesbisch gehalten. Damit muss man klarkommen, denn man kann noch so viel erzählen, aus dieser Schublade kommt man nicht so schnell wieder heraus. Dies ist auch in vielen Ländern so, man braucht z.B. nur nach Osteuropa fahren, wo ich das auch schon selbst erlebt habe. Reisen zwei Freunde oder zwei Freundinnen zusammen, gelten sie oft auch automatisch als homosexuell. Gut, jeder kann denken was er will aber in Chile spricht man das auch aus. Besonders toll ist aber, wenn die Leute nett sein wollen, denn akzeptiert wird noch die Option hässlich oder geistig "eingeschränkt" bzw. "komisch". Dann darf man sich so Dinge anhören, wie diesen Monolog, mit dem mich mal eine ältere Frau in der Metro ungefragt belästigt hat: "Hmm, noch keinen Ring am Finger. Gut, du siehst ja nicht gerade hübsch aus, kein Wunder dass du noch nicht verheiratet bist. (Sie blickt auf meine Haare.) Dir Ärmsten fehlen ja auch schon die Haare und eine Brille musst du auch tragen. Na ja, aber dafür bist du ja reich (Da ich "weiß" bin, muss ich in den Augen der meisten Chilenen automatisch viel Geld haben.) und da findet sich doch bestimmt eine..." Eine Andere meinte zu mir in gebrochenem Englisch, dass mein dünnes Haupthaar auf eine "bad DNA" schließen lässt. Da stand ich manchmal ziemlich baff da und es hat mich auch etwas mitgenommen. Aber das hatte auch sein Gutes, denn nun kann mich keine Beleidigung mehr so leicht schocken. Die Touristinnen, die ich traf, bekamen so etwas nicht gesagt, aber anderen allein reisenden Touristen hat man Ähnliches an den Kopf geknallt.
Zurück zum Thema. Die Familie ist der Dreh- und Angelpunkt des Lebens. So ist der Zusammenhalt zwischen den Familienmitgliedern wie Onkeln/Tanten, Schwagern, Cousins etc. viel stärker als in Deutschland. Kinder bekommt man sehr zeitig. Da die Chilenen trotz des ständigen über Sex Redens irgendwie verklemmt sind, gibt es an den Schulen keine richtige Aufklärung. So beklagte sich bei mir ein Lehrer, dass er nicht aufklären darf, die Eltern aber sogar auf die Schulausflüge mitkommen, damit ihre Kinder ja keinen Sex haben. Aus dem selben Grund dürfen Schulausflüge auch nicht über mehrere Tage gehen. Aber doch sind es meist deren Kinder, die mit 17 schwanger sind. 25 % der chilenischen Mütter bekommen ihr Kind mit unter 20, [Kindernothilfe]. Oft sieht man Leute in der Stadt bei denen man denkt, die eine ist die ältere Schwester, aber dann sagt das jüngere Kind auf einmal Mama zur Älteren. Die Anzahl der Kinder korreliert mit dem Einkommen der Eltern - die Ärmeren haben mehr Kinder.
Geheiratet wird auch sehr früh. Dies hat aber nicht viel zu bedeuten, da nicht wenige Männer sich alsbald eine neue Frau suchen aber verheiratet bleiben. Seit 2003 darf man sich aber auch scheiden lassen und ich habe viele Leute getroffen, die stolz auf ihre Scheidung sind. Und wenn man schon mehrfach geschieden ist, hängt man das gerne auch an die große Glocke, da das wohl Männlichkeit symbolisiert. In Temuco sprach mich eine Frau an, ob ich nicht mit zu ihr nach Hause kommen möchte, sie würde was Tolles kochen und ich könnte ihre 21 Jahre alte Tochter kennenlernen. Ihre anderen zwei jüngeren Töchter standen daneben und waren total über ihre Mutter empört. Aber sie blieb hart und meinte, dass es Zeit wird, dass ihre Älteste unter die Haube kommt.
Man redet gerne und ausgiebig über Sex. So wurde ich in einer Bar auf einen Pisco Sour in eine Trinkrunde eingeladen. Nach einer Weile wurden Nacktbilder der letzten Errungenschaften und/oder Prostituierten herumgereicht. Fremd gehen ist auch ziemlich angesagt und auch damit wird in Männerrunden geprahlt. Nach außen wird in der Öffentlichkeit aber das Bild Familie, Harmonie und Liebe hochgehalten und die Ehefrauen werden stolz präsentiert. Die Stundenhotels sind aber gerade zur Mittagszeit ausgebucht, und das manchmal Wochen im Voraus. Ansonsten ist man sehr direkt, wenn es um Sex geht. Viele Touristinnen beschwerten sich, dass die chilenischen Männer sie nach 5 Minuten direkt fragen, ob sie mit ihnen Sex haben wollen. Ansonsten fällt mir noch eine Anekdote ein: Am zentralen Platz in Chillán aßen wir unser Abendbrot. Wir hörten alsbald komische Geräusche und so waren gleich zwei Pärchen, noch bei Tageslicht, in aller Öffentlichkeit am Kopulieren und keinen hat es gejuckt.

Dieser Blogeintrag soll nicht negativ rüberkommen, denn man reist ja um Neues kennenzulernen und jedes Land ist anders und macht gerade den Reiz des Reisens aus. Als Tourist hat man zudem mehr Zeit und bekommt so tiefere Einblicke in die Gesellschaft als in der Heimat. So bin ich mir sicher, dass es auch in Freiburg ausgebuchte Stundenhotels zur Mittagszeit gibt.

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